Unsere Gäste kommen
Ein neuer Erwerbszweig bahnt sich an - Vom Fischerdorf zum Seebad
Ärmste Zeit unserer Insel
BorkumIn dieser wohl ärmsten Zeit unserer Insel fällt eine auch von keinem damaligen Insulaner ahnende Entwicklung einer neu sich erschließenden Verdienstquelle. Es ist der Erholungsverkehr und Erholungsbetrieb. Anfangs fast unbemerkt in all dem traurigen Geschehen der Zeit wird die deutsche Küste mit ihren Inseln dem Erholungsverkehr erschlossen. Während die anderen Inseln schon um 1800 die ersten Gäste aufnehmen, wird unsere Insel wegen des langen Seeweges und der Übersetzschwierigkeiten erst gegen 1830 aufgesucht. Familien aus der Hafenstadt Emden und ihrer Umgebung sind es, die den ersten Anstoß zu dieser neuen Entwicklung geben. Man fährt mit dem Fährschiff, einem kleinen Segelschiff, das alle 14 Tage eingesetzt wird, zunächst von Greetsiel, später auch von Emden aus zur Insel. Als das gräfliche Amt um 1856 mit seinem Sitz nach Pewsum verlegt wird, werden die Fahrten alle acht Tage nur von Emden ausgeführt. Der Fährmann ist der Überbringer der amtlichen Schriftstücke und wird gleichzeitig als Postbeförderer der örtliche Briefträger. Diese ersten Gäste, die mit den einfachen Segelschiffen kamen, kannten die Sprache der Insulaner, sodass in dieser Beziehung die Fühlungnahme schneller hergestellt werden konnte. Und ihnen zu Ehren muss man es sagen, dass sie einmal den rechten Kontakt mit den Einwohnern fanden und ihnen dadurch zum anderen die Einsicht für diese neue Erwerbsumstellung verständlich zu machen wussten.
Für die Gäste die Sommerküche geräumt
Man weiß um die ärmlichen Verhältnisse der Inselbewohner und hat Betten, Holz, Kohlen, Küchengeschirr, Bestecke, Lebensmittel und Badezelte mitgebracht, sodass nur noch für die Gäste die Sommerküche geräumt werden muss, während der Insulaner sich in der Winterküche oder im Heugulf der Scheune sein Nachtlager aufschlagen muss. So gleich die Badereise unserer ersten Gäste fast einem Umzug von heute, während auch die Anreise selber oftmals einen ganzen Tag oder länger andauerte. Ganz langsam merkt der Insulaner die zusätzliche Einnahme, die ihm auf dem Tisch gelegt wird; aber die große Entwicklung wird nicht von ihm erahnt. Anfangs also nicht von der Inselbevölkerung mit offenen Armen aufgenommen, muss der Gast immer wieder für den Anstoß dieser neuen Entwicklung sorgen.
1840 schon 60 bis 80 Sommergäste auf unserer Insel
Der große Weitblick aber der sich anbahnenden neuen Erwerbsmöglichkeit bleibt nur einigen wenigen Männern vorbehalten. So wird durch den Chirurgus Ripking und den späteren Landchirurgus Rhode die erste Pionierarbeit für die Gründung und Entwicklung eines Seebades geleistet. Man nimmt kränkliche Knaben auf, man beginnt mit Veröffentlichungen und anzeigen in den ostfriesischen Zeitungen und beschreibt die Insel und die Badeverhältnisse. So heißt es in einem Artikel: „Hier kleidet sich ein jeder, wie es ihm beliebt, hier haben Nachtmütze, Schlafrock und Pantoffeln mit Hut, Frack und stiefeln gleichen Wert, und hier gilt gottlob ein nicht geschorener Bart dem glattrasierten Kinn völlig gleich.“ Während um 1840 schon 60 bis 80 Sommergäste auf unserer Insel weilen, erscheint in der ersten amtlichen Kurliste des Jahres 1850 eine Besucherzahl von 255. Damit hat die anfänglich tastende Entwicklung ihren Anfang genommen, eine Entwicklung, die nach zwei Hauptrichtungen gesehen und zielbewusst verfolgt werden musste. Einmal aus der Sicht des Insulaners, der in seiner Aufnahmebereitschaft von Gästen und in dem Suchen nach neuen und erweiterten Aufnahmemöglichkeiten sich umstellen musste. Auf der anderen Seite ist es einer dörflichen Behörde vorbehalten, die hinsichtlich des Badebetriebes wichtigen Beschlüsse für die zu schaffenden Einrichtungen zu fassen. So setzt bald ein wöchentlicher Verkehr von Emden ein. Die heutige Strandstraße, die zum Badestrand führt, wird mit Rasenstücken ausgelegt, und auf dem Strand werden 1852 die ersten Badezelte mit Kabinen sowie ein großes Sommerzelt und eine Kegelbahn errichtet, aber erst 1861 als amtliche in Tätigkeit tritt und von der bis auf den heutigen Tag hin die maßgeblichen Entscheidungen und Entschlüsse für das Badeleben ausgehen.
Ein bedeutender Aufschwung
ab 1855
Ein bedeutender Aufschwung schließt sich an das Jahr 1856 an, als durch den Eisenbahnanschluss von Rheine nach Emden die Verbindungen mit dem Hinterland, mit Westfahlen und dem Rheinland und später durch den Eisenbahnanschluss von Leer nach Bremen, 1869, die Verbindungen mit dem Hannover- Land hergestellt sind. Nun können auch die Nichtostfriesen, die man „Dütske“ nennt, als Gäste anreisen. In diesen Jahren stehen 200 Betten für die Aufnahme von Gästen zur Verfügung. Aber mit dem Anwachsen dieser Gästezahl kommt die Versorgung derselben nicht mit. Schwierigkeiten im ersten größeren Zelt von „Mutter Visser“ tauchen auf, hinsichtlich der tropischen Hitze des Platzmangels und des fehlenden Küchengeschirrs. Und wer kein besteck mitgebracht hat, ist ebenfalls übel dran. Es macht sich das Fehlen der eigentlichen Gastronomie mit großen Küchen und Eßsälen bemerkbar. Das ändert sich aber bald, als gegen 1858 der Sohn des Amtsvogts Uhlenkamp das erste zweistöckige Gebäude – ein Konversationshaus mit Hotel – bauen lässt, das später von dem Gastwirt Köhler übernommen wird (heutiges Dorfhotel beim Alten Leuchtturm). Einige Jahre später erstellt derselbe auf der Randdüne des Westens die erste „Giftbude“, das erste kleine Strandlokal (am Ausgang der oberen Strandstraße links). In diesen Jahren entstehen in der Nähe des Dorfhotels zwei weitere zweistöckige Häuser, die Hotels Bakker sen. Und Bakker jun. Während heute das erste mit seinen Erweiterungsbau ein Familienfreizeitheim geworden ist, ist das letztere abgerissen, und eine hässliche Lücke zwischen dem ev. - ref. Pfarrhaus und dem Rathaus lässt die Erinnerung an vergangene Zeiten nur noch wach werden. In diesen drei größten Häusern der Insel befinden sich große Eßsäle, in denen an langen Tischen für die Gäste das „Table d´hote „ (Tisch des Gastgebers) eingerichtet wird.
Transportable Badekutschen (Badekarren) für Damen und Herren werden aufgestellt
Während so mehr und mehr die Gastronomie wach wird, ändert sich auch das Strandleben. Neben den bisherigen primitiven Badezelten werden transportable Badekutschen (Badekarren) für Damen und Herren aufgestellt, Badewärter überwachen ordnungsgemäß die Durchführung des Badebetriebes. Allerdings wird das Baden, der strengen Sitte und Etikette entsprechend, scharf getrennt durchgeführt. So gibt es einen Damen-, einen Knaben- und einen Herrenbadestrand, und streng wird darüber gewacht, dass kein „fremdes“ Auge unbefugte Einsicht nimmt. Wenn man heute auf alten Bildern aus dieser Zeit die badenden Gäste betrachtet, die Frauen mit ihren Badekostüm, von der Halskrause bis zu den Füßen reichend, und die Herren mit ihren langen Badeanzügen, so kann man sich des Schmunzelns nicht erwehren. Der jeweilige Schnitt der Badebekleidung ist doch das Gepräge, ist der sichtbare Ausdruck seiner Zeit und seines Zeitdenkens. Gebadet wurde nur bei flut, und der Beginn der Badezeit wurde durch das Hissen einer Badeflagge angezeigt. Während des Badens durfte kein Herr den Damenbadestrand, keine Dame den Herrenbadestrand betreten. Ja, der Verkehr auf der Randdüne an diesen Bädern vorbei war sogar während der Badezeit gesperrt. So ist uns von einen Strandwärter folgender launischer Befehl an die Gäste, die trotzdem einen kleinen „Einblick“ nehmen wollten, überliefert, der die Hand mit folgenden Worten hob:“Hier wird nicht gesteht, hier wird weitergegeht!“ und doch, was hätte der besagte Herr Badegast wirklich sehen können? Entkleidete sich einmal eine holde Weiblichkeit in einer der Badekutschen, die sie mieten konnte, so wurde sie von der Badewärterin in das seichte Wasser gefahren. Dort schlüpfte die holde Nixe in ihrem Badekostüm, das den graziösen Körper mit allen seinen proportionellen Reizen verdeckte, ins Wasser und war wirklich allen neugierigen Blicken entzogen. Nach Beendigung des Badens vollzog sich dann diese Handlung in umgekehrter Weise. Wer keine Badekutsche benutzen wollte, mietete sich eine Badekabine im Badezelt. Die feuchte Badebekleidung konnte jeweils bei der Badefrau oder dem Badewärter abgegeben werden, die dann für die Trocknung sorgte. So geschah einmal folgende überlieferte Anekdote: als eine Badegastdame sich nach ihrer Badewäsche erkundigte, ob sie schon trocken sei, erhielt sie eine Antwort: „Nee, die Pfeifen sind noch etwas klamm!“ (Die langen Hosenbeine, Plattdeutsch Piepen genannt, sind noch etwas feucht.)